Weil Schamanismus es ein äußerst vielseitiges religöses Phänomen mit sehr weiter Verbreitung ist, gibt es für ihn keine einheitliche Definition. Den Begriff Schamanismus können wir von dem Wort „saman“ von den Tungusen (Sibirien) ableiten. Übersetzt bedeutet es sinngemäß "jemand, der geistig angeregt bzw. bewegt ist". Auf einer allgemeinen Ebene finden wir im Schamanismus die „Ekstasetechnik“, psychologische Aspekte wie Trance und Besessenheit, sowie die Vorstellung einer Seelenreise des Schamanen während einer Seance. In der schamanistischen Vorstellung hat jeder Mensch mehrere Seelen. Durch das Abhandenkommen einer Seele können Krankheiten verursacht werden. Wenn Schamanen als Medizinmänner tätig sind, müssen sie sich auf eine „Seelenreise“ begeben, um die verlorenen Seelen ihrer Patienten zurückzuholen. Da solche Reisen auch für die schamenen gefährlich sind, sind sie auf Hilfsgeister angewiesen. Diese begleiten und schützen den Schamanen in der Parallelwelt. Schamanismus geht von einem vertikalen Kosmos mit zahlreichen Welten über/unter der Lebewelt aus, die alle durch eine axis mundi verbunden seien
Dass Höhlenmalereien mit schamanistischen Ritualen in Verbindung gestanden haben könnten, wurde bereits in 1950er Jahren diskutiert. Allerdings konnte sich diese Theorie zunächst nicht durchsetzen. Selbst der berühmte französische Höhlenforscher André Leroi-Gourhan hatte sich mit einer schamanistischen Interpretation befasst, diese aber aus Mangel an Beweisen wieder verworfen. Der Gedanke wurde allerdings nie wirklich aufgegeben. Ein paar der Höhlenmalereien aus Lascaux, Trois-Frères und Gabillou fachten die diskussion immer wieder erneut an. Dort wurden nämlich Darstellungen von menschenartigen Wesen dargestellt, bei denen es sich um Mensch-Tier-Symbiosen oder verkleidete Personen handeln könnte. Andreas Lommel, Weston Labarre und Joan Halifax gingen davon aus, dass diese Bilder Schamanen mit ihren Helfern darstellen würden. Allerdings reichen diese wenigen Darstellungen nicht aus, um für das Jungpaläolithikum eine Religion zu postulieren, die auf der Idee vom Schamanismus fundiert aufbaut. Es mangelte schlichtweg an einem ausreichenden theoretischen Rahmenwerk. Dieses wurde gegen Ende der 1980er Jahren von David Lewis-Williams und Thomas A. Dowson vorgelegt.
Wie kam es nun dazu, dass man erst zu diesem Zeitpunkt eine passende Theorie entwickelte? Es begann damit, dass sich südafrikanische ArchäologInnen zur Deutung von Felsbildern auf Ethnografien der San aus dem 19. und 20. Jahrhundert bezogen. Diese Möglichkeit hatte man für das Jungpaläolithikum Westeuropas logischerweise nicht. Dort gab es im 19. und 20. Jahrhundert niemanden mehr, der auf Felswände oder in Höhlen zeichnete. Über Analogien zur Kunst der San fanden die beiden Archäologen David Lewis-Williams und Thomas Dowson Anhaltspunkte, mit denen sie die Malereien in Europa unter neuen Gesichtspunkten betrachten konnten. Die beiden konnten aufzeigen, dass die Kunst der San mit schamanistischen Visionen und Symbolen, übernatürlicher Kraft sowie spirituellen Erfahrungen verknüpft ist. Das Schaffen von Felskunst sei demnach mit einem veränderten Bewusstseinszustand verknüpft gewesen. Diese Interpretation haben die beiden mit jungpaläolithischen Höhlenmalereien aus Europa verglichen und anschließend darauf anwenden können. Seit den 1980er Jahren hat sich insbesondere David Lewis-Williams darum bemüht, ein neurologisches Modell zur Erklärung von Höhlenmalereien zu entwickeln. Dem werden wir uns gleich noch widmen.
Die Art und Ausprägung von Halluzinationen können stark variieren. Man kann generell zwischen optischen und somatischen Halluzinationen und somatischen Empfindungen unterscheiden. Letztere werden auch als Pseudohalluzinationen bezeichnet. Die betroffene Person ist sich nämlich ihrer selbst bewusst, dass das Erlebte wird als Einbildung wahrgenommen, weil man noch den eigenen Zustand beurteilen kann. Bei einer somatischen Halluzination wird aus der Einbildung „Wirklichkeit“. Derartige Halluzinationen können durch Drogen wie LSD oder Hyperaktivität erreicht werden. Die San versetzen sich zum Beispiel durch intensives rhythmisches Tanzen in Trance und erleben dabei somatische Halluzinationen, die sie in ihrer Felsbildkunst verarbeiten. Eine Begleiterscheinung der Trance ist häufig Nasenbluten. So ist es verständlich, dass auf einigen Abbildungen Menschen mit unproportionalen Extremitäten und Nasenbluten zu sehen sind. Auch werden häufig Bienen dargestellt, weil diese den Schamanen in Trance begegnen. Die San berichten, dass sie in Trance von den Bienen und von Gott gesandten Nadeln/Pfeilen gestochen wurden. Die Pfeile sollen Krankheit und Tod verursachen können.
Dieses Motiv „Pfeil im Körper“ aus den somatischen Halluzinationen findet sich auf Darstellungen europäischer Felskunst wieder – zum Beispiel in Cougnac und Pech-Merle. Lewis-Williams geht davon aus, dass die Darstellungen von Menschen und Bienen sowie von Menschen und Pfeilen im Körper mehr als Darstellungen von persönlichen Erfahrungen sind. Die Kunst bildete somit eine wesentliche Ressource zur Bestimmung der materiellen Kultur und damit eine Kontrolle über das Verhalten und Handeln der Menschen. Durch sie vermittelten Schamanen ihre Erlebnisse an ihre Gruppe.
Bei der Deutungsübertragung ist es wichtig, dass sich neurologische Allgemeingültigkeiten unter veränderten Bewusstseinszuständen auf ähnliche Weise manifestieren. Diese Allgemeingültigkeiten hat werden in dem „neurologischen Modell“ beschrieben (Lewis-Williams & Dowson 1988). Demnach ist jeder Mensch dazu in der Lage, Rauschzustände erleben und sich daran erinnern zu können. Diese Tatsache geht auf die neuronale Struktur des menschlichen Gehirns zurück. Sie zeigt die Entwicklung mentaler Bilderwelten von klaren zu tieferen veränderten Zuständen an. Da jungpaläolithische Menschen anatomisch "modern" waren, werden sie diese Erfahrungen auf dieselbe Weise wahrgenommen haben wie wir es tun.
Rauschzustände kann man durch „Hyper-Erregung“ oder einen „Hyper-Ruhezustand“ erreichen. In beiden Fällen kommt es zu einer Verlangsamung der summierten elektrischen Aktivität im Gehirn. Pathologische Veränderungen am Skelett können die Ursachen für Trancezustände sein. Es ist nicht unüblich, dass Schamanen körperliche Behinderungen besitzen, die ihnen das Eintreten in Trance "erleichtern".
Das neurologische Modell gliedert Trance in drei Phasen. In der ersten Phase werden geometrische Formen wie Punkte, Zickzackstreifen, Gitter, parallele Linien und Mäanderlinien wahrgenommen. Diese Erscheinungen werden als Phosphene bezeichnet. Es handelt sich um Lichtwahrnehmungen, die nicht durch das Licht, sondern durch andere Reize auf den visuellen Cortex des Gehirns verursacht werden. In der zweiten Phase können diverse Symbole und geometrische Formen zugeschrieben werden. Diesen Halluzinationen kann der Betroffene einen Sinn abgewinnen, weil religiöse bzw. gefühlsmäßige Bezüge vorhanden sind. Beispielsweise können sich Zickzacklinien zu einer Schlange zusammenfügen. Schließlich gelangt der Schamane in der dritten Trancephase in eine Art Strudel oder Tunnel/Vortex, einen Wirbel, der ihn ansaugt. Nun werden tief reichende Erfahrungen wie die Vermischung von Formen und die Wahrnehmung von Synästhesien, das Verlassen des eigenen Körpers und das Eintreten in andere Wirklichkeit erlebt.
In Trancezuständen treten optische, somatische und akustische Halluzinationen auf. Zu den optischen Halluzinationen gehört, dass Objekte größer oder kleiner erscheinen als sie eigentlich sind. Man spricht hierbei von Macro- und Micropsia. Zudem werden oft Tiere gesehen, sogenannte Zoopsia. Häufig erscheinen visuelle Halluzinationen palimpsestartig übereinander. In jungpaläolithischen Höhlenmalereien ist es keine Seltenheit, dass sehr viele Darstellungen übereinander dargestellt werden. Man weiss letztlich nicht mehr, was zuerst dargestellt wurde und welche Malereien sich aufeinander beziehen. Schließlich sind in den Höhlen Darstellungen, die sich den eigenen Körper beziehen. Es handelt sich hierbei um somatische Halluzinationen. Bei solchen Halluzinationen haben die Betroffenen das Gefühl, dass sich ihr eigener Körper verwandelt bzw. verändert. Man spricht vom sogenannten „shapeshifting“. Im Zuge dessen nimmt der eigene Körper plötzlich die Gestalt eines Tieres an. Hinzu kommt, dass man in Trance oftmals fließendes Wasser wahrnimmt und das Gefühl hat, zu schweben bzw. im Wasser zu schwimmen. Daher ist es nachvollziehbar, dass gerade Wasservögel wie Enten im Schamanismus eine besondere Rolle spielen. Wie kommt aber nun diese veränderte Wahrnehmung zustande? In erster Linie ist ein Teil des limbischen Systems hieran beteiligt: das Corpus
amygdaloideum (kurz Amygdala). Es ist mitunter für die Orientierung im Raum sowie für das Empfinden von Furcht und Aggression verantwortlich.
Der Schamane gelangt letztlich in einen Zustand, indem er seinen Geist von seinem Körper lösen und in eine Parallelwelt reisen kann. Weil diese Trennung gefährlich ist, ist er auf Hilfsgeister angewiesen. Nach Lewis-Williams sind Seancen grundsätzlich zweckgebunden gewesen. Zu den Kernaufgaben zählten die Kontaktaufnahme zu übernatürlichen Kräften, die Kontrolle über lebende Tiere, Heilung von Kranken und eine Einflussnahme auf das Wetter.
Nach Lewis-Williams könne man an den folgenden Kriterien beweisen, dass es im Jungpaläolithikum Schamanismus gegeben hat:
Lewis-Williams konnte aufzeigen, dass in der Felsbildkunst der San schamanistisches Leiden gezeigt wird und Parallelen zu jungpaläolithischen Höhlenmalereien existieren. Dort gibt es, wenn auch wenige, Höhlenmalereien mit nach vorn gebeugten Menschen, die Pfeile im Körper haben. Diese Zeichnungen interpretiert er als bildlich umgesetzte spirituelle Erfahrungen. Anhand ethnografischer Beobachtungen kann man aufzeigen, dass Höhlen sowohl als Initiationsorte für Schamanenanwärter auserwählt werden als auch von erfahrenen Schamanen für Rituale aufgesucht werden. Die veränderten Bedingungen innerhalb einer Höhle hinsichtlich der Lichtverhältnisse, Temperatur, Bodenbeschaffenheit und Akustik können Rauschzuständige zusätzlich verstärken.
Die Höhlenmalereien sieht Lewis-Williams als Bestandteile einer sozialen und kognitiven Bewegung innerhalb einer Kosmologie. Die Abbildungen sollen in differenzierte rituelle Vorgänge eingebunden gewesen sein. Es ist nicht auszuschließen, dass sich Schamanen unter Berufung auf die Darstellungen einen spezifischen soziale und politische Status innerhalb ihrer Gruppen sicherten. Man brachte seine leidvollen spirituellen Erfahrungen zum Ausdruck, um sich von den Erfahrungen anderer abzuheben und um sich von der übrigen Gruppe abzugrenzen zu können. Demnach ist das Entstehen von Religion im Jungpaläolithikum an eine soziale Differenzierung und Hierarchisierung gebunden gewesen. Die Abbildungen hatten demnach einen direkten Einfluss auf die Struktur und damit auch auf das Handlungspotential der Menschen. Während der Eingangsbereich der Höhlen von der gesamten Gruppe genutzt wurde, seien die Räume hinten in den Höhlen den Schamanen vorbehalten gewesen. Der Eingangsbereich der Höhlen könnte zum Herbeiführen von Trance und Halluzinationen genutzt worden sein. War ein Rauschzustand erreicht, begab sich der Schamane in das Innere, um mit der übernatürlichen Welt in Kontakt zu treten. Die engen Gänge, die sich verändernden Oberflächen und die veränderte Akustik verstärkten die Rauschzustände. Für manche Höhlen konnte ein Zusammenhang von der Akustik und der Verteilung der Wandbilder erkannt werden. Die Höhle selbst wurde zur axis mundi, d.h. zum „Tor“ zur übernatürlichen Welt.
Autor | Titel | Seite |
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Jean Clottes – David Lewis-Williams | Schamanen. Trance und Magie in der prähistorischen Kunst | |
David Lewis-Williams | The Mind in the Cave: Consciousness and the Origins of Art | - |
David Lewis-Williams | Deciphering Ancient Minds: The Mystery of San Bushmen Rock Art | - |
Martin Porr | Palaeolithic Art as Cultural Memory: a Case Study of the Aurignacian Art of Southwest Germany. Cambridge Archaeological Journal 20, 2010 | 87-108 |
Beschreibung | Link |
Zur schamanischen Kulturgeschichte psychogener Pilze | zauberpilzblog.net/ |
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